1999 war ein spektakulär gutes, in jeder Hinsicht prägendes Kinojahr. Fight Club, Matrix, American Beauty. The Green Mile, Sixth Sense, The Virgin Suicides. Notting Hill, Die Braut, die sich nicht traut, Eyes Wide Shut. Being John Malkovich, Boys Don’t Cry, Election. Selbst in Deutschland lief mit Absolute Giganten überdurchschnittlich gutes Zeuch.
Filme aus einer Welt, die digital genug war, dass The Blair Witch Project viral wurde und analog genug, dass Matrix seine dystopische Cyber-Faszination entfalten konnte. Ein Jahr, in dem Newcomer wie Sofia Coppola, Charlie Kaufman und die Wachowski-Schwestern ihre Jahrtausendwende-alles-wird-anders-Angst verarbeiteten. Filme, mit einer solchen Relevanz, dass wir sie 25 Jahre später (meist) noch gerne sehen und zitieren und ihre Machart studieren. (NPR/NYT)
Tatsächlich war ich vergangene Woche mit meiner Schwester im Kino, wir sahen Der talentierte Mr. Ripley, die Patricia Highsmith-Verfilmung mit Jude Law, Matt Damon und Gwyneth Paltrow – ebenfalls von 1999. (Die Yorck-Kinos in Berlin und München zeigen bis Ende des Jahres noch mal eine Auswahl an 1999ern.)
Im Anschluss saßen wir 45 Minuten im Auto und sprachen über das Gesehene. Die Performance der SchauspielerInnen, die Location, die existenziellen Fragen nach Identität und Moral. Meine Schwester schloss mit den Worten: “Warum werden solche Filme eigentlich nicht mehr gemacht?" Weil wir darauf keine schnelle Antwort fanden, echauffierten wir uns noch mal über Jude Laws diverse Infidelitäten, dann fuhr ich nach Hause.
Mein Punkt ist: Wer sich traut, aus diesem ikonischen Jahrgang etwas anzufassen, hat besser einen guten Plan. Dazu gleich mehr.
Jetzt erst mal zu den Neustarts und wiederkehrenden Titeln in der zweiten November-Hälfte:
Somebody Somewhere – Staffel 3 (27.11.)
Neben HBO-Schlachtrössern wie Succession, And just like that und Game of Thrones ist dieses Kleinod von einer Serie ein bisschen untergegangen – dabei ist Somebody Somewhere ein wohltuendes Gegenprogramm zu Monstern in Westeros und New York.
Nach dem Tod ihrer Schwester steckt Sam (Bridget Everett) in ihrer Heimatstadt in Kansas fest. Sie ist Ende 40, hat einen Job, den sie hasst, eine weitere Schwester, die sie hasst, ein kompliziertes Elternhaus, weder Freunde noch Freude. Bis sie ihren alten Schulkameraden Joel (Jeff Hiller) wiedertrifft, der sich noch gut an die alte Sam erinnern kann. Vor allem ihre Stimme – “wie ein Engel”.
Langsam schält sich Sam aus ihrer Trauer und dieser Prozess ist das Hoffnungsvollste und Berührendste, das ich in den vergangenen Jahren im TV gesehen habe.
Die SerienmacherInnen schauen mit einem verzeihenden und liebevollen Blick auf ihre imperfekte Welt, auf Familie, Freundschaft, das mondäne Leben in einer Kleinstadt im mittleren Westen der USA, ohne zu kitschig oder urteilend zu werden. Unter den Trailer hat jemand kommentiert: “Bei dieser Show muss ich jede Episode lachen und weinen.” Ja! Und das liegt vor allem an Bridget Everett, die eine unfassbare Performance abliefert und von der ich noch nie gehört hatte.
Eine kleine Annäherung: Somebody Somewhere ist Everetts erstes TV-Projekt, dabei arbeitet sie seit rund drei Jahrzehnten als Kabarettistin und Comedienne, vor allem in New York, On- und Off-Broadway. “Sie hat eine Stimme wie ein Rudel Wildpferde”, sagt ihr ehemaliger Gesangscoach. “Sie ist eine einmalige Kombination aus absoluter Ehrlichkeit darüber, wer sie ist in der Welt und Unzüchtigkeit”, sagt die Produzentin. Everett sagt:
“Ich bin nur ein Paar große Titten mit schlanken Knöcheln, und niemand sah mich als Nummer 1 auf dem Drehplan.” (Vulture)
Sie hat diese Serie mitkonzipiert und produziert, außerdem steckt das Produktionsbüro der Duplass-Brüder mit drin. Alle drei Staffeln sind mit 100% auf Rotten Tomatoes bewertet. Sämtliche Emmys und Globes haben Somebody Somewhere bislang ignoriert, dabei ist Everett das Unmögliche in diesen Algorithmen-und Krisen-geplagten Zeiten gelungen: Eine Show zu machen, abseits vom Mainstream und mit einem besonderen Ton – und das über drei Staffeln.
Läuft auf: Sky/WOW
Doctor Odyssey (28.11.)
Ich habe mir deutlich mehr erwartet, das gleich vorweg. Ich dachte, Joshua Jackson würde sich nach Adam Brody und Andrew Garfield als nächster in die Millennial-Männer-Revival-Rige vorspielen. Die Voraussetzungen, dass mir dieser Titel gefällt, standen recht gut: ein von Ryan Murphy konzipiertes Procedural auf ABC mit Jackson als der titelgebende Schiffsarzt und GästInnen wie Shania Twain und John Stamos. Network TV, wie man in Hollywood so schön sagt: Campy sei die Serie, also ein bisschen geschmacklos, so schrecklich, dass es schon wieder gut ist. Ein Prädikat, von dem ich weiß, dass es mehr Newsletter-AbonnentInnen gefällt, als die meisten zugeben.
Ich erwartete also Grey’s Anatomy auf dem Wasser und bekam mehr Seifenoper als selbst ich vertrage: Noch bevor die ersten 30 Minuten um sind, hat Dr. Odyssey eine Penisfraktur geheilt und knutscht mit Krankenschwester Avery – nach einem Dance-Off am Strand mit Krankenpfleger Tristan, der ebenfalls an Avery interessiert ist.
Es geht also um die Lieb- und Seilschaften auf der Odyssey, unsere Reise beginnt mit dem ersten Tag von Dr. Max Bankman (schon der Name), der auf dem Kreuzfahrtschiff als neuer Chefarzt anheuert. In Empfang genommen wird er von seinem kleinen Team und Kapitän Robert Massey (Don Johnson, immer ein Grund einzuschalten, das haben wir ja etabliert).
Jede Episode legt die Odyssey mit einem neuen Motto ab – welches immer völlig schwachsinnig ist (Beauty-OP-Woche!), aber den DrehbuchautorInnen erlaubt, einen absurden medizinischen Fall nach dem anderen zu behandeln. Die Vorstellung, wie sie völlig high in diesem Writers’ Room zusammensitzen und Dinge pitchen wie “wie wäre es, wenn einer so viele Shrimps isst, dass er eine Jodvergiftung bekommt”, gefällt mir fast am besten an der Serie. Es ist wie Rosamunde Pilcher auf Koks – nur hotter.
Mehr muss man gar nicht wissen, bestenfalls verfolgt ihr beim Schauen eine Nebenbeschäftigung wie Pletten oder Weihnachtskarten schreiben, damit die 42 Minuten langen Episoden nicht zu viel tote Zeit sind. Weil weitergeschaut hab ich natürlich doch.
Läuft auf: Disney+
Wo ich (widerstrebend) reinschauen werde:
Eiskalte Engel (Cruel Intentions) – die Serie (21.11.)
Ich bin nicht aus Prinzip gegen Remakes, auch nicht vom 1999-Jahrgang, im Gegenteil: Eiskalte Engel war eine Neuverfilmung von Dangerous Liaisons. Netflix hat dieses Jahr eine sehr gute Interpretation von Ripley vorgelegt (13 Emmy-Nominierung / 4 Gewinne). Außer Ein Königreich für ein Lama ist wenig gut gealtert, den meisten Stoffen würde ein Update gut tun.
Was an Eiskalte Engel 1999 so gut war: Dass der Film sich, seinen Stoff und sein junges Cast so ernst genommen hat, dabei ging es um reiche, verwöhnte, horny Teenager aus und in New York. Eiskalte Engel war ein billig produzierter Indiefilm, der sich an den erotischen Thrillern der 80er und 90er abarbeitete, besetzt mit damaligen Teenie-Stars (Buffys Sarah Michelle Gellar, Ryan Philippe, Reese Witherspoon und mal wieder: Joshua Jackson). Das nenne ich mal einen Sweetspot.
Als der Film von einem größeren Studio gekauft wurde, fand er seinen Weg in den Mainstream. Jede zweite Szene war sofort ikonisch, der Soundtrack ein Lebensgefühl, falls ihr wisst, was ich meine.
Ich habe den Trailer zu Amazon Primes Eiskalte Engel-Serie nur durch Zufall gesehen (was für mich heißt, dass sie den Titel eher begraben wollen). Was soll ich sagen: Es sieht mehr nach Maxton Hall als Fatal Attraction aus, die Antithese zu dem Poster, was jahrelang in meinem Zimmer hing.
Man könnte jetzt einwerfen, dass ich nicht die Zielgruppe für diese Gen Z orientierte Produktion bin, aber das wäre Quatsch: Niemand erfreut sich an dramatisiertem Highschool-Nonsens mehr als ich.
Reinschauen muss ich wohl nach dieser Tirade, aber Gott steh mir bei. Ich bin wenig hoffnungsvoll, dafür hat Amazon zuletzt zu viel Lieblings-IP verhunzt (The Lord Of The Rings: The Rings Of Power). Dann echt lieber Doctor Odyssey.
Läuft auf: Amazon Prime
A Man on the Inside (22.11.)
Man muss ja regelrecht dankbar sein, wenn Sender und Streamer noch Comedies bestellen. Nicht, dass diese Serie ein großes Risiko wäre: Von Creator Mike Schur kennt man nur erfolgreiche und beliebte Titel. Parks & Recreation habe ich gerne geschaut (minus die erste Staffel) und The Good Place war in jeder Hinsicht solide Unterhaltung. Brooklyn 99 habe ich mehrfach gesehen und Hacks, wo Schur als Executive Producer involviert ist, ist ein wiederkehrendes Element in meinem Newsletter.
In seiner neuesten Schöpfung geht es um den Witwer Charles, gespielt von Comedy-Veteran Ted Danson (Cheers, The Good Place, Bored to Death), der als verdeckter Ermittler in ein Altersheim einzieht. In weiteren Rollen: eine entfremdete Tochter, eine spitzfindige Heimleiterin (Brooklyn 99s Stephanie Beatriz) und diverse unterhaltsame Heim-Gestalten (unter anderem Gilmore Girls-Legende Sally Struthers).
Charmante Murder Mysteries im Seniorenheim haben schon seit ein paar Jahren Konjunktur, am bekanntesten ist wohl Richard Osmans Buchserie The Thursday Murder Club. (Die Verfilmung davon liegt ebenfalls bei Netflix, vermutlich kein Zufall, sondern eher ein Zielgruppen-Thema.) Ich bin kein Fan vom Murder Club, das war mir alles zu beschaulich. Aber ich mag Mike Schur, Ted Danson und die Tatsache, dass diese kitschige Prämisse auf einer wahren Geschichte beruht.
Läuft auf: Netflix
Blitz (22.11)
Nachdem Edward Berger Anfang des Jahres mit “Im Westen nichts Neues” mehrere Oscars gewann, könnte man meinen, es wäre erst mal genug Weltkrieg-Thematik zu sehen gewesen, aber nein. Dieses Jahr sind gleich zwei Weltkriegs-Filme auf dem Radar der Academy. A24s dreieinhalb Stunden langer The Brutalist, über den wir noch an anderer Stelle sprechen werden, und Blitz auf Apple TV+.
Es geht um den kleinen Jungen George (Elliott Heffernan), der 1940 im Zweiten Weltkrieg während der deutschen Angriffe auf London von seiner Mutter Rita (Saoirse Ronan) aufs Land geschickt wird. Doch dort soll er nie ankommen: Er macht sich auf den Weg zurück zu seiner Mutter durch die unter Beschuss stehende Stadt.
Regisseur ist Steve McQueen, dessen Film “12 Years a Slave” 2014 den Oscar als “Bester Film” gewann. Die Besprechungen sind nicht durchgehend überschwänglich (“zu old-fashioned”), loben aber durchweg McQueens Perspektive: Georges verstorbener Vater war ein Einwanderer aus Grenada, auf seiner beschwerlichen Reise durch die Stadt ist er neben deutschen Bomben dem Rassismus der Londoner ausgesetzt. “McQueen fechtet gleichzeitig die propagandistische Representation dieser Zeit an, wonach alle Briten in der “Keep Calm and Carry On”-Solidarität vereint waren und erweitert das Bild patriotischer Identität”, schreibt Alison Willmore.
Ein bisschen Oscar- und Industry-Gossip an der Stelle: Saoirse Ronan darf hier auf eine Nominierung als beste Nebendarstellerin hoffen. Apple TV+ war und ist der einzige Streamer, der bislang einen Oscar in der Kategorie “Bester Film” gewonnen hat – 2022 für Coda, ein Remake des französischen Films Verstehen Sie die Béliers?. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie den Film diese Saison pushen werden, zumal mit einem so renommierten Filmemacher an Bord.
Ronan könnte sogar zweimal nominiert werden, da sie auch noch in The Outrun zu sehen ist, einem Indie-Streifen über eine Alkoholikerin. Produziert hat sie den Film zusammen mit ihrem Mann, dem Schauspieler Jack Lowden, der seit vier Staffeln als River Cartwright in Slow Horses ermittelt, einer weiteren exzellenten Apple TV+ Show. Ronan war bereits viermal für einen Oscar nominiert und könnte in ihrer Awardskampagne sehr gut mit dem “sie wäre jetzt mal dran”-Narrativ fahren.
Punkte hat sie schon mal hiermit gesammelt:
Läuft auf: Apple TV+
Honorable Mention:
Auch ich brauche mal eine Pause vom Bildschirm, deswegen habe ich diesen Titel nicht mehr investigieren können. Say Nothing ist bereits draußen und ich sehe hier und da gute bis sehr gute Besprechungen. Es handelt sich um die wahre Geschichte zweier Frauen, die sich während des Nordirland-Konflikts der IRA anschließen.
Läuft auf: Disney+
Absolute Giganten! Der schönste und zwingendste Open Air Film im Hamburger Sommer.