Seit gut zwei Wochen steht Rebel Ridge im Netflix-Ranking weltweit und in Deutschland auf der 1. Das heißt natürlich erst mal gar nichts. Aber: Seit zwei Wochen lese ich immer wieder extrem positive Reviews. So positiv, dass ich aus Newslettergründen nicht mehr wegschauen kann.
Hier ein paar Beispiele:
“Erfindet das Actionfilm-Genre neu” (Guardian)
“Polizeidrama mit dem gewissen Unterschied” (New Yorker)
“Actionfilm des höchsten Kalibers” (Slate)
“Instant Slow-Burn Action Classic” (Vulture)
“Bewegt sich mit wohlüberlegter Intelligenz” (New York Times)
“A knockout” (lol, noch mal der Guardian)
Dazu 96% auf der Richterskala von Rotten Tomatoes und ein prominentes Kompliment:
Ok, ich bin nicht uninteressiert; alles was mehr Jack Reacher und weniger The Grey Man ist, soll mir recht sein. Da bin ich ganz bei Stephen.
(Achtung, kleinere Kontext-Spoiler sind leider nicht zu umgehen.)
Darum geht’s:
Terry Richmond (Aaron Pierre), ein Schwarzer Ex-Marine, ist auf seinem Fahrrad unterwegs nach Shelby Springs, einer Kleinstadt in Louisiana, um die Kaution für seinen inhaftierten Cousin zu hinterlegen. Er rast durch die Straßen, aus seinen Kopfhörern ballert Iron Maiden, so laut, dass er den Polizeiwagen hinter sich erst wahrnimmt, als die zwei weißen Cops ihn anfahren. Widerstandslos lässt er die unverhältnismäßige Gewalt und die rassistischen Anschuldigungen der beiden über sich ergehen. Am Ende darf er weiterfahren – allerdings ohne die Kaution. Die Polizisten berufen sich auf ihr Recht, auch ohne konkrete Hinweise auf ein Verbrechen das Geld einbehalten zu dürfen. Terry braucht das Geld aber dringend: Sein Cousin soll in ein staatliches Gefängnis verlegt werden, wo er wegen einer kompromittierenden Zeugenaussage wenig Überlebenschancen hat.
Acht Anfangsminuten, die direkt so wütend machen, aber Terry begibt sich stoisch auf die Suche nach seinem Geld und landet in korrupten Instanzen und einem noch korrupteren Polizeirevier. Sein Endgegner: Polizeichef Sandy Burnne (Don Johnson), ein selbstgerechter Provinz-Sheriff mit Gottkomplex. Seine einzige Verbündete: die Gerichtshelferin Summer McBride (AnneSophie Robb). Die beiden landen schneller auf der Abschussliste als ich “es ist ein Fremder in der Stadt” sagen kann.
Warum das gutes Material für einen Actionthriller ist:
Das könnte alles ganz fürchterlich vorhersehbar sein, ist es aber nicht, weil Terry nicht einfach nur “bei der Army” war, sondern einer Sondereinheit angehört hat, die auf nicht-tödliche Manöver spezialisiert ist. Deeskalation statt Konfrontation, entwaffnen statt abknallen. Auf seinem Rachefeldzug, den Terry dann doch gezwungenermaßen antritt, feuert er keinen einzigen tödlichen Schuss ab. Bodycount: 0. Die einzigen Schussverletzungen werden durch Cops verschuldet; smart. “First Blood meets Michael Clayton”, so hat Regisseur und Drehbuchautor Jeremy Saulnier den Stoff bei Netflix gepitcht. Also ein bisschen Rambo und ein bisschen Justizthriller. Wobei “ein bisschen Rambo und ein politischer Kommentar auf amerikanische Machtstrukturen” es fast besser treffen würde.
Ist das noch Action?
Ja und zwar richtig gute. Die Nahkampfszenen sind perfekt choreografiert. Aaron Pierre als Terry ist in 129 von 135 Szenen zu sehen und trägt den Film in jeder Einstellung mit seiner Präsenz und Körpersprache. Dass der Film häufig eine geradezu körperliche Reaktion auslöst, ist ihm zu verdanken und der tollen Cinematography. Grundsätzlich sagt es natürlich viel über unsere Sehgewohnheiten aus, dass ein Actionfilm ohne Kollateralschäden als Revolution und “Stephen Seagal mit New Yorker-Abo” wahrgenommen wird.
Was sonst stark ist:
Das Drehbuch, das zwar mit klassischen Actionfilm- und Western-Tropes spielt, aber nicht ins Klischee kippt. Es gibt ein paar feine Einzeiler und Schlagabtausche, aber eben kein “Hasta la vista, baby”. Saulnier schafft es, fast die gesamte Spielzeit von gut zwei Stunden die Spannung aufrecht zu halten und den Druck auf seine Hauptfigur stetig zu erhöhen: Wann wird dieser Mann angesichts dieser Ungerechtigkeiten ausrasten? Don Johnson, den ich das letzte mal in Book Club und Knives Out gesehen habe und dem diese Rolle deutlich besser steht, ist natürlich auch nicht schlecht.
Beruht Rebel Ridge auf wahren Tatsachen?
Jain. Es ist zwar keine wahre Geschichte, aber es beruht auf tatsächlichen Gesetzen. Civil Asset Forfeiture bietet ein Schlupfloch im amerikanischen Strafgesetz, wonach die Behörden Besitzgüter – also beispielsweise Bargeld, aber auch Autos oder sogar Häuser – von BürgerInnen beschlagnahmen können, wenn sie befürchten, diese Assets könnten für ein Verbrechen genutzt werden. Ohne Beweise dafür zu haben. Eigentlich sollte das dem FBI das Vorgehen gegen organisiertes Verbrechen erleichtern.
Die Realität sieht jedoch häufig anders aus. Die beschlagnahmten Güter sind extrem schwer zurückzubekommen. Die Behörden dürfen diese für sich behalten oder sogar verkaufen. Immer wieder gibt es Geschichten von absurden Fällen, die in allen politischen Lagern für Unmut sorgen. Die Bürgerrechtsorganisation ACLU setzt sich seit einiger Zeit für eine Reform dieses Gesetzes ein.
Fazit:
Ist das der beste Actionfilm des Jahres? Es ist auf jeden Fall ein wirklich sehr guter, der ein relevantes Thema bearbeitet und sich traut, die Hauptfigur mit einem neuen Talent zu besetzen. Das kann man in diesem Franchise-versauten Genre selten behaupten. Ich beurteile Filme danach, ob sie mich unterhalten und überraschen. Saulnier hat mich mehr als einmal erwischt.
Was für mich nicht ganz so elegant aufgeht: Es gibt ein paar Genre-untypische Szenen und Anspielungen zu Terrys Vergangenheit, die mich prinzipiell null stören, aber leider nicht aufgelöst werden. Aber gut, ist halt immer noch ein Actionfilm.
In Zahlen: 4 von 5 Sternen, für einen Sonntagabend 3000-mal besser als jeder Tatort.
Extracurricular Reading:
Als ich für diese Newsletterfolge ein bisschen quergelesen habe, bin ich in ein Don Johnson-Rabbit Hole gefallen. Ich kann nicht mal sagen “leider”, weil folgende Geschichte mich sehr unterhalten hat:
Im November 2002 hielten Zollfahnder im süddeutschen Bietingen an der Grenze zur Schweiz routinemäßig eine Mercedes-Limousine an. Die Beamten staunten nicht schlecht, als sie drinnen unter anderem Don Johnson, einen 28-jährigen Vermögensberater und Wertpapiere über die unglaubliche Summe von 8 M-i-l-l-i-a-r-d-e-n Dollar fanden. Die waren zwar nicht auf Johnson, sondern einen bis heute nicht identifizierbaren Amerikaner ausgestellt, aber geil war’s natürlich nicht. Die Beamten kopierten alles pflichtbewusst und informierten die US-Behörden. Schnell fielen in der Angelegenheit Begriffe wie “Steuerbetrug” und “Geldwäsche”. (Spiegel)
Johnson beteuerte, er sei unterwegs gewesen in Sachen Filmförderung. Nur mal so: Von acht Milliarden Dollar könnte Jim Cameron 16 Avatar-Filme drehen und hätte noch Geld für die Marketingkampagnen und einen Mercedes SLR übrig. Die Sache erledigte sich nach einigen Monaten; eventuell wurde Johnson sogar selbst Opfer eines Betrugs (die Papiere waren anscheinend gefälscht). (SZ / taz)
Ist aber auch völlig nebensächlich, weil jetzt kommt meine Lieblingsstelle: Johnson hat sich demnach so darüber geärgert, dass sein Name von den deutschen Behörden durchgestochen wurde, dass er mithilfe einer Hamburger Anwaltskanzlei das deutsche Finanzministerium – in Person: Hans Eichel (SPD) – wegen Rufschädigung auf Schadensersatz verklagen wollte. (taz)
Für solche Geschichten existieren Panorama-Ressorts. Und dieses Gif:
Es ging noch weiter: Hier sehen wir ihn auf seiner PR-Schadensbegrenzungstour, wie er versucht, sich bei Larry King rauszureden und der europäischen Presse droht (“You better apologize or you’re on my list”). Dramatische Pause. ABER SEHT SELBST:
Der günstigste Mercedes SLR kostet übrigens 435.000, der teuerste 135 Millionen Euro.
Hasta la vista, I’ll be back next week!
Bis dahin freue ich mich, wenn ihr meinen Newsletter empfehlt:
Wow - ich Muss ihn sehen! Danke auch für die Don J. Geschichte 😂
Toller Text! Er hat mir ein Lächeln in das Gesicht gezaubert. Als dann noch Larry King die Überschriften vorgelesen hat, musste ich laut lachen.
So sunny!