Die Awards Season ist seit Anfang Dezember in der heißen Phase. Stars und PR-Profis buhlen um Titelgeschichten, Einladungen in Late Night Shows und Best-Dressed-Listenplatzierungen. Filmstudios laden zu Fragerunden, Luncheons und exklusiven Vorführungen ein. In kaum einem Monat werden in Hollywood so viele Hände geschüttelt wie im Dezember, wenn es darum geht, Momentum aufzubauen, um bei Preisen wie den SAGs, den Globes und nicht zuletzt den Oscars abzuräumen.
Konkret geht es darum, die Menschen zu überzeugen, die über die Nominierungen und Preisvergaben abstimmen. Also Industrie-Zugehörige, die in den verschiedenen Gilden und Akademien sitzen. Das ist eine Kunst für sich; Filmstudios und Streamer haben ganze Awards-Teams, in denen Scheduling-, Marketing- und PR-ExpertInnen jeden Schritt genau takten und sich Narrative überlegen, mit denen sie die Votierenden überzeugen wollen.
Diese Kampagnen sind teuer, oft kosten sie bis zu 15 Millionen Dollar, schreibt Industrie-Experte und Journalist Michael Schulman. Es gehe nicht nur darum, einen guten Film zu vermarkten, sondern eine Geschichte mit bestimmten Werten zu erzählen.
Die Geschichten, die gesponnen werden, kennen wir alle, hier meine Lieblings-Drehs:
Die Person war jetzt einfach mal dran (funktionierte schon für Tom Hanks in Cast Away und letztes Jahr für Robert Downey Jr. mit Oppenheimer. Dieses Jahr könnten Saoirse Ronan und Ralph Fiennes gut damit fahren)
Der Fokus auf eine emotionale Darstellung, die gleichzeitig ein gesellschaftlich wichtiges Thema thematisiert (Carol, Im Westen Nichts Neues, Spotlight)
Eine krasse körperliche Herausforderung oder Veränderung (Annette Bening als Schwimmerin in NYAD, Brendan Fraser als mehrgewichtiger Mann in The Whale, Charlize Theron in Monster)
die Industrie-Selbstbetrachtung (La La Land, The Artist und dieses Jahr: Saturday Night Live)
das emporkommende Ausnahmetalent, das eine eindrucksvolle Performance abliefert (Austin Butler für Elvis, Timothée Chalamet für Call me By Your Name)
Am meisten Spaß macht es dann, wenn die Bemühungen ins Absurde abdriften. Austin Butler beispielsweise, der in Baz Luhrmans Biopic von 2022 Elvis spielt, war quasi die gesamte Zeit des Award-Circuits mit den Elvis-Erbinnen unterwegs und sprach monatelang mit einem Südstaaten-Akzent, den er sich zugelegt hatte. Geholfen hat’s auf jeden Fall, Butler kam quasi aus dem Nichts und wurde 2023 für den Oscar als bester Schauspieler nominiert.
Natürlich kommen immer mehrere Dinge zusammen: Butler lieferte an der Seite von Schauspielveteran Tom Hanks eine wirklich gute Performance ab; der Film von einem renommierten Regisseur war ein kommerzieller Hit und basierte auf einer wahren Begebenheit, einem amerikanischen und globalen Mythos. Elvis hatte Warner Bros. als erfahrenes Studio hinter sich, das den Film beim renommiertesten Filmfestival der Welt premierte: Cannes. Eine Awards-Kampagne wie aus dem Bilderbuch.
Selbst das ist keine Garantie. Das beste Marketing der Welt, kann aus einem schlechten Film oder einer schlechten Performance keinen Oscargewinner machen (außer vielleicht aus The Shape of Water, Gott, war das ein blöder Film). Hinzu kommen Zeitgeist, Reaktionsvermögen und – ich nenne es mal eine Mischung aus Demut und Authentizität, selbst wenn sie nur vorgegaukelt ist (und das ist sie immer).
Anne Hathaway wollte den Oscar damals so sehr, dass die Sympathie für sie kippte. Als sie 2013 die Auszeichnung für Les Misérables in Empfang nahm, war sie so unbeliebt wie nie zuvor in ihrer Karriere. (Mein Text dazu auf SPIEGEL)
Riverdale-Star Charles Melton, der letztes Jahr auf eine Nominierung als bester Nebendarsteller für das Netflix-Drama May December hoffte, verzettelte sich ebenfalls: Er verschickte selbstgemachtes Kimchi an WählerInnen und JournalistInnen. Angeblich nach einem Rezept, das seit sechs Generationen in seiner Familie kursiert (Harper’s Bazaar). Geholfen hat es nichts, wobei man natürlich streiten könnte, was alberner ist: das Kimchi oder der Elvis-Akzent.
Werfen wir einen Blick auf das aktuelle Oscar-Rennen:
In knapp fünf Wochen stimmen die Mitglieder der Academy of Motion Pictures über die Oscar-Nominierungen ab, bevor dann am 2. März die Verleihung ist. Ich persönlich bin jetzt schon von der grün-rosa Konfettikanone genervt, die das Marketing-Team von Wicked gezündet hat. Dann lieber Kimchi. (Mehr zum Wicked-Meme du Jour bei meiner geschätzten Kollegin Lisa)

Meistens gibt es um diese Zeit schon einige Favoriten, in diesem Jahr ist alles ein wenig unübersichtlicher. Die erste Woche im Dezember ist mit ihren KritikerInnen- und Indie-Awards immer der Startschuss und in diesem Jahr noch entscheidender als sonst.
Profitiert hat davon vor allem ein Film, den bislang kaum jemand gesehen hat: das Gefängnisdrama Sing Sing.
Für Hauptdarsteller Colman Domingo war es sogar eine besonders gute Woche. Erst schaffte es seine neue Thriller-Serie The Madness auf Platz 1 der Netflix-Charts, dann gewann er bei den Gotham Awards für Sing Sing und wurde bei den Independent Spirit Awards für eben diese Rolle noch mal nominiert. Sing Sing wurde außerdem in einer Handvoll weiterer Kategorien ausgezeichnet und nominiert, darunter bestes adaptiertes Drehbuch, beste Nebenrolle und bester Film.

Das ist sozusagen ein perfect storm, ein Venn-Diagramm aus Timing, Mainstream und Prestige. Der Netflix-Hit macht Domingo, der vor allem aus Indie-Dramen bekannt ist, interessant für ein breiteres Publikum. Der Gotham Award für seine schauspielerische Leistung bringt ihn und seinen Film als Oscarkandidaten in Position. Seine Dankesreden, seine Umtriebigkeit auf Events und Garderobe unterstreichen seine Starqualitäten.

Ein Momentum, auf welches das Studio hinter dem Film seit fast einem Jahr wartet.
Sing Sing feierte seine Weltpremiere bereits 2023 beim Toronto Film Festival und wurde kurz darauf vom Cool-Kids-Studio A24 gekauft. Als der Film im Sommer 2024 in einigen wenigen Kinos gezeigt wurde, galt er aufgrund seiner positiven Besprechungen als früher Oscar-Favorit – bis man wenig bis gar nichts mehr von Sing Sing hörte.
Das Besondere an dem Film: Die Handlung beruht auf einer wahren Geschichte, auf einem Esquire-Artikel. Es geht um Inhaftierte in einem New Yorker Hochsicherheitsgefängnis, die ein Theaterstück aufführen. Der Ansatz ist Teil eines Pilotprogramms, um Insassen durch Kunst zu rehabilitieren.
Im Filmgeschäft werden solche Titel oft IP genannt – also eine existierende Grundlage, auf der man aufbauen kann. Bücher, wahre Begebenheiten, Comic-Helden, Barbie – alles existing IP. Der Gedanke im risikoaversen Hollywood: Diese Geschichten sind im Idealfall bereits einem breiteren Publikum bekannt und haben somit eine eingebaute Audience.
Was den Titel außerdem zu einer außergewöhnlichen Produktion macht: die Philosophie und Herangehensweise der Verantwortlichen. Alle Beteiligten haben dieselbe Gage erhalten. Und: Die FilmemacherInnern verlassen sich nicht auf etablierte Hollywoodstars, sondern viele ehemalige Insassen spielen eine Version von sich selbst. Darunter auch Clarence Maclin, der 17 Jahre in Sing Sing saß. Wie Domingo wurde er gerade mehrfach ausgezeichnet und nominiert.

Es gibt also gleich mehrere gute Narrative, die man hier spielen kann.
Eine Geschichte, die das wichtige Thema Gefängnisreform in den USA anspricht.
Eine Geschichte über zweite Chancen im Leben, nicht zuletzt durch Kunst und Schauspielerei.
Eine Geschichte über Gerechtigkeit.
Eine Geschichte aus dem wahren Leben.
Eine Geschichte mit Relevanz und Aktualität, auf die sich große wie kleine Publikationen stürzen (New Yorker I Los Angeles Times I Vulture).
Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass einer der Insassen und Schauspieler freigesprochen wurde, nachdem er 23 Jahre unschuldig wegen Mordes im Gefängnis saß (The Hollywood Reporter). Marketing- und Awardskampagnengold.
Ich will nicht zynisch klingen. Natürlich ist es einfach auch eine tolle Geschichte, die Regisseur Greg Kwedar und sein Produktionspartner Clint Bentley da gefunden und realisiert haben.
Aber wenn wir uns anschauen, wie die Awards-Maschinerie funktioniert, ist es eben schon ein Timing-Glücksfall für die Vermarktung und Positionierung. Es wundert mich nicht, dass bei der Urteilsaufhebung neben den FilmemacherInnen auch Leute von A24 anwesend waren. Wenn ihr uns den Oscar gebt, seid ihr auf der richtigen Seite der Geschichte, lese ich da als Narrativ raus.
A24 versuchte sofort, die Flamme weiter anzufachen:
Keine 24 Stunden nachdem Domingo und Maclin ihre Preise in den Händen hielten, verkündete A24, Sing Sing noch mal flächendeckend in Nordamerika zu zeigen. Raus aus dem Programmkino, rein in die Popcorn-Säle von AMC und Co.
Auch international ist der Film jetzt in den meisten Ländern lizenziert. In Deutschland läuft Sing Sing eine Woche vor der Oscarverleihung am 27.2.25, was ebenfalls sehr clever ist: ein bisschen Oscar-Aufregung vorher mitnehmen und bei eventuellen Preisen ist der Film direkt im Programm.
Regisseur Greg Kwedar und Produzent Clint Bentley saßen noch derselben Woche bei Hollywoods bestinformiertestem Journalisten Matt Belloni auf der Couch. Dessen Podcast “The Town” wird von vielen Industrie-Zugehörigen gehört. Menschen, die bei vielen Preisvergaben abstimmen dürfen und die es zu überzeugen gilt. Denn auch wenn die Academy-Mitglieder nach den Konflikten und Beschwerden in den vergangenen Jahren immer internationaler werden, sitzt ein Großteil immer noch in Hollywood.

Eigentlich hat A24 also alles richtig gemacht und jede erdenkliche Perspektive gespielt. Wie volatil diese Kampagnen sind, zeigte sich allerdings direkt am Montag nach der Bekanntgabe der Golden Globes-Nominierungen: Sing Sing ging fast komplett leer aus, lediglich Domingo ist als bester Nebendarsteller nominiert. (Hier die komplette Liste der Nominierten)
Das ist auf jeden Fall ein kleiner Dämpfer, aber muss nicht das Ende der Kampagne sein. Die Leute, die für die Globes abstimmen, sind nicht dieselben, die für die Oscars votieren. In fünf Wochen können noch viele Hände geschüttelt werden.
Mir persönlich wäre eine Nominierung für Sing Sing als bester Film tausendmal lieber als sämtliche Wickeds und Gladiatoren.
Ich will nicht zu needy klingen, wenn ich schreibe, dass ich Ihre Empfehlungen und Tipps vermisse. (Aber es stimmt)Ich hoffe, es geht gut und Sie haben schöne Feiertage.